Malus Malum

XVIII XIII XXI

Vierter Oktober. Zehn Uhr abends. Strömender Regen. Der Motor tuckert keuchend durch das Prasseln hindurch. Nichts anderes regt sich hier draußen. Alles andere ist still. Vivek drückte sein Handy erneut an die Fensterscheibe, verzweifelt bemüht, auch nur das geringste Signal abzufangen. Wieder tippte er Sandras Nummer ein. Kein Signal. Das Gerät unterhielt nicht einmal den Gedanken, hier draußen noch zu funktionieren. "Du weißt, dass das nicht funktionieren wird." Sascha starrte konzentriert voran. Ihre Augen schwenkten sanft nach jedem Hindernis aus, dass durch das Scheinwerferlicht aus der rußigen Dunkelheit fiel. "Ach ja?" Vivek drehte die Schutzkappe an der stummeligen Gummi-Antenne des Geräts ab und drückte den blanken Draht in das Dach des Wagens. Kein Signal. "Komm mir nicht damit. Du weißt selbst, wie stark das Signal hier draußen ist." "Also weißt du plötzlich, was hier draußen los ist?" Er konnte sehen, wie Saschas Nacken sich spannte. "Ich weiß, das du hier niemanden erreichen wirst." "Aber ..." "Hör endlich auf", raunte Sascha ihm zu, "du tust dir damit keinen Gefallen." Vivek fiel erschöpft in seinen Sitz zurück. Die aufgeplatzten Schichten des Leders stachen ihm scharf in den Rücken. "Das ganze Tal funkt wie ein Feuerwerk, und das seit drei Wochen", wandte sie ein, "Das wird so schnell nicht aufhören." "Sie ist schon krank vor Sorge", stöhnte er zurück. "Sie wollte von Anfang an nicht, dass ich hier rauskomme." Still starrten sie beide in das Scheinwerferlicht hindurch. Reihen an kargen Nadelbäumen wischten durch die grafitgraue Nacht. Der Werkzeugkoffer rasselte auf der Rückbank. Sascha räusperte sich. "Biljana? Natürlich sorgt sie sich um dich. Wer würde dich schon hier rauslassen wollen? Aber wir beide wären nicht hier, wenn wir nicht dafür qualifiziert wären." Die schlammige Landstraße machte endlich wieder eine Kurve. Konzentriert zwängte Sascha das Lenkrad herum, um den rostigen Wagen um die enge, rutschige Biegung zu drücken. Das Auto zwang sich über den zu Schlamm zerflossenen Weg. Am Gipfel der Kurve stockte es, fing an, sich zu neigen, drehte die Reifen durch, bevor es sich gnädigerweise wieder in Bewegung setzte. "Verdammte Rostlaube. Hätten die uns nichts besseres schicken können? Wie fahren die bitte hier draußen mit so 'nem Schrott herum?" Seufzend blickte sie Vivek an. "Ruh dich lieber etwas aus. Wir haben sowieso noch eine lange Nacht vor uns. Und hier draußen kriegst du ohnehin kein Signal rein."

Die dichten Kurven der Straße führten sie langsam bergab. Sümpfe und Tümpel gaben sich immer mehr felsigen Talsenken hin. Das aufgeregte Gröhnen der Frösche verebbte, und übrig blieben nur die spärlichen Rufe entfernter Eulen. Zu beiden Seiten senkte sich der Boden immer mehr ab, bis der Weg einen guten Meter abgehoben war. Der langsam verblassende Pfad führte sie durch einen immer lichteren Wald, bis er am Rand einer Klippe endete. Sascha wendete den Wagen und parkte ihn neben dem modrigen Geländer, das die Klippe einfasste. Aus seinem Fenster konnte Vivek erkennen, dass sich jenseits der Klippe, irgendwo hinter der dichten Regenwand, ein großer See erstreckte. Ein Berg blickte unweit des anderen Ufers auf sie hinab, die fahlen Kreidefelsen reflektierten einen Mond, der noch hinter den Wolken vor ihnen versteckt war. Er blickte am Geländer entlang. In der Dunkelheit, umrissen vom fahlen Mondlicht, konnte er ein Haus erkennen. Es schien ein größeres Privat-Anwesen zu sein. Wahrscheinlich war es einst ein größeres Jagdhaus gewesen. Und von seinem Eingang her lief eine kleine, bucklige Gestalt zu ihnen her. Sie schien etwas in ihren Händen hochzuhalten. Bevor er Sascha konsultieren konnte, war sie bereits ausgestiegen. Widerwillig holte er die Werkzeuge von der Rückbank und folgte ihr heraus.

Der Regen war inzwischen strömend geworden, die Tropfen schlugen ihm wie Kiesel ins Gesicht. Die Kapuze seines dünnen Regen-Capes half ihm kaum. In den Momenten, in denen er seine Augen nicht schützend zukniff, konnte er langsam ausmachen, wer dort zu ihnen gelaufen war. Es war ein junger Mann, vielleicht 27, 28 Jahre alt, der Sascha den zerflissenen Regenschirm reichte, unter dem er sich gerade noch verkrochen hatte. Er war ungekämmt, behelfsmäßig rasiert, und merkbar bucklig. Sein Buckel war so groß, dass er sogar unter seiner sackigen Robe sichtbar war. Bei näherer Betrachtung fiel ihm auf, dass das Kleid in seiner Grundschicht aus einem alten, verfilzten Hoodie bestand. Unförmige Aufnäher in Erd- und Stein-Farben hatten an allen Enden den Umriss erweitert, doch die Kapuze ließ keinen Zweifel: Das war der unverkennbare Parasit aller massenproduzierten Kapuzenpullover. "Sie sind die Ärzte?" , fragte der Bucklige plötzlich. Seine krächzende Grafit-Stimme liess Vivek aufschrecken. Das Geräusch ging ihm ins Mark wie Fingernägel an einer Tafel. "Ja, sind wir", entgegnete Sascha, abgelenkt von dem Versuch, dem durchlöcherten Regenschirm ein Maß an Schutz zu entlocken. "Und sie sind?" Ihr Gegenüber überguckte die beiden mit nervösen Blicken. Als sich seine Augen drehten, merkte Vivek, dass eines eine blinde Fahlheit zeigte. Wortlos drehte sich der Mann ab und deutete ihnen, ihm zu folgen. "Mein Name ist Rasmus", raspelte er in den Wind, "Ich passe hier auf die Patienten auf." Unter trockenem Keuchhusten warf er sich seine Kapuze auf. Vivek blickte zu seiner Kollegin herüber. Ein Stöhnen unterdrückend sah sie zu ihm und winkte ihn zu sich.

Eng neben Sascha unter den Regenschirm gequetscht, konnte sich Vivek vor dem Anwesen umsehen. Es gab hier nicht mehr viel zu sehen: Die Überreste eines Pavillons, deren morsche Rippen sich gegen den Regen streckten, waren das Auffälligste in der Gegend. Alle anderen Überbleibsel konnten sich kaum noch über dem Boden halten. Die geradlinig angeordneten Reste einer Hecke waren zu einem Geflecht aus dünnen Stümpfen reduziert. Von langsam vorankriechendem Moos überwachsen, nahm das feucht-braune Holz, nach und nach die Farbe des Erdbodens an. Mechanisch gleichförmige Stein-Zähne gafften in die Luft, deuteten eine Mauer an, lange begraben durch die Erde, die sie einst zurückgehalten hatte. Alles chaotisch gespickt durch zufällig verstreute Holzlatten, Besenstiele, Gartenwerkzeuge. Und alles schien sich müde der Erde zuzuwenden, zu rosten, zu welken, zu zerfallen. Wortkarg, aber mit eiligem Schritt führte Rasmus sie an die Tür heran. Sie wäre ohnehin massiv gewesen — aus dem Stand hätte er den oberen Rahmen nie erreichen können — durch ein Geflecht an behelfsmäßig festgenagelten Brettern erschien der massive Holzblock jedoch, als würde seine Masse ihn aus dem Anwesen heraus drücken. Rasmus griff den mit einem Muster von Weizenähren geschmiedeten Türklopfer mit beiden Händen und drückte. Die Tür knarzte offen. Auf den regennassen Pflastersteinen saugte sich eine Staubschicht aus Holzspähnen voll.

Ein schreiender Hirsch begrüßte sie, sein Kopf ausgestopft gegenüber des Eingangs aufgehangen. Es bestand kaum ein Zweifel, dass das hier einst ein Jagdhaus war. Das hohe Dach war auf massive Eichenstämme gesetzt, die Wände aus groben Felsen gezimmert, und das Holzparkett schien überall noch den rauchigen Geruch von Bourbon und Rasierwasser zu tragen. Jagdtrophäen, hauptsächlich von großen Nagetieren, zierten den engen Gang, in dem sie sich fanden. Doch dieses Anwesen hatte seine besten Jahre lange hinter sich gelassen. Jede Wand war voll gestellt mit Vorräten: Krankenbahren, Werkzeuge, Stahlrohre, Holzlatten ... Die überlebenden Massivholz-Schubladen, ihre Lebenszeit mit Nägeln und Klebeband verlängert, quollen innen und außen über. Ihre Ablagen waren mit Stapeln an Papieren bedeckt, die offen stehenden Kästen mit Reihen an Medikamenten in planen weißen Büchsen belegt. "Wie seid ihr an so einen Ort gekommen?", fragte Vivek fast instinktiv. Rasmus warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. "Wir suchen durch alle verlassenen Gegenden dieses Landes", erklärte er schweren Atems. "Wir sind Verstoßene, Leute, die aus dem einen oder anderen Grund nicht mehr in der ... feinen Gesellschaft leben können." Sascha drängte sich neben ihm durch den Gang. "Ist ihre Gruppe schon vor dem Signal hier gewesen?" Rasmus stöhnte erneut. "Wie lange sind wir jetzt schon hier? Ich glaube ... sechs Monate? Verzeihen Sie mir, aber hier draußen wird es manchmal schwer, die Zeit im Auge zu behalten. Wir erfassen sie nicht in Wochen und Monaten, sondern in Reparaturen und Krankheiten. Und in letzter Zeit ... nun, sie wissen schon, was passiert ist. Die wenigsten von uns sind daran interessiert, fremde Hilfe zu suchen. Aber diese Fälle übersteigen unsere Möglichkeiten."

Rasmus führte sie in den Hauptraum des Anwesens. Hier war die gesamte Fläche bis zum Dach frei. Das wurde Vivek klar, als er die Eckpfeiler erblickte, deren gesamte Länge hier sichtbar war. Vom Boden bis zum Dach waren sie wahrscheinlich sechs Meter lang, vielleicht mehr. Die Kerzenleuchter, die hier immer noch an der Wand hingen, konnte kaum die ganze Höhe des Hauses ausleuchten. Vivek war sich sicher, dass er von außen Fenster gesehen hatte, doch in dieser düsteren schienen sie kaum Licht hereinzulassen. Somit blieb fast die gesamte Schräge des Daches unbeleuchtet, wie düstere Wolken am Nachthimmel, die jederzeit über ihnen hingen. Im ganzen Raum waren immer noch kostbar gefertigte Möbel verteilt: Schachtische aus Ebenholz, Ohrensessel aus waldgrünem Samt, Globen in Messing-Gehäusen ... Doch diese waren nun alle an die Wände geräumt worden und nahmen eine nebensächliche Rolle ein. Die wirklichen Gebrauchsgegenstände waren billige kleine Falttische, Klappstühle und Regale, alle aus abgenutztem, ermatteten Plastik oder Aluminium gefertigt. Nur wenige der teureren Möbelstücke fanden noch einen Nutzen: Die Kommoden hier waren, wie die im Eingang, zum Überfluss mit Medikamenten gefüllt. Dazwischen, dich aneinander gedrängt, reihte sich ein Dutzend niedrige, Pritschen-artige Betten aneinander. Hinter ihnen erstreckte sich ein Mezzanin über die zweite Etage, der den Hauptbereich überblickte. Als Vivek herauf blickte, begutachtete ihn eine alte Dame mit verbundenem Arm. Verletzungen schienen hier ohnehin die Norm zu sein: Die meisten Leute hier waren bandagiert, viele liefen auf Krücken, einige hatten die Augen verbunden und schienen komplett erblindet zu sein.

Am auffälligsten war jedoch, was an der hinteren Wand stand: Einige der hintersten Betten waren abgedeckt worden. Verchromte Gestelle mit niedrigen Vorhängen verhinderten den Blick auf zwei der Betten. Im seichten Schein einer flackernden Kerze zeichneten sich die Schatten zweier Leute ab, die dort lagen. Rasmus spähte vorsichtig hindurch und zog dann den Vorhang vom hinteren der Betten zurück. Vivek erstarrte. Sein Atem stockte. Auf dem Bett lag eine junge Dame, etwa im selben Alter wie Rasmus. Ihr dürrer Körper war nur mit einem dünnen Laken bedeckt, dass sie eindeutig herumgezerrt hatte und nun eine Falte quer über ihren Bauch bildete. Sie schien bewusstlos zu sein. Oder am Schlafen? Er war sich nicht sicher. Doch das wichtige war, was mit ihrem Kopf passiert war. Es schien etwas aus ihrem rechten Auge herauszuwachsen. Vivek wandte sich an Rasmus, dann an Sascha. Beide deuteten ihm, die Dame näher zu betrachten. Mit vorsichtigen Schritten näherte er sich dem Bett, unsicher, was passieren könnte, aber in ständiger Erwartung, im nächsten Moment rennen zu müssen. Er kniete sich neben ihr nieder. Die steifen Eichenbohlen knarzten, als er sich niederließ. Aus der Nähe konnte er erkennen, dass die Dame nicht bewusstlos war. Sie schien sich in konstanter Bewegung zu befinden, ein Zucken, aber ein gleichmäßiges Zucken, dass fast einer Vibration nahe kam und von außen kaum zu sehen gewesen war. Immer wieder wurde ihre Bewegung von scharfen, unregelmäßigen Atemzügen unterbrochen. In jedem Moment sah es so aus, als würde sie im nächsten aufwachen. Und jetzt konnte Vivek auch sehen, was aus ihrem Auge herauswuchs: Es war ein eigenartiges, regelmäßiges Gebilde. Seine Form sah beinahe aus wie ein Strang an Wassertropfen, oder an leuchtenden Äpfeln, drei oder vier Stück, der unaufhaltsam von ihrem Schädel zur Decke hinauf wuchs. Die Oberfläche war größtenteils rau und trocken, ihre Farbe ein durchschimmerndes, gelbliches Rot, das von organischem Gewebe zeugte und zahlreiche, eitrig umhüllte Venen führte. Nur an der äußersten Spitze war dieses Gewebe glänzend feucht. Und diese Spitze sah aus wie ein einzelner, aufgerissener Augapfel, ein Augapfel, der ohne Lider endlos zum Himmel hinauf starrte. Das linke Auge der Dame war eindeutig schon demselben Prozess verfallen. Hinter dem zuckenden Lid drückte sich das geschwollene Auge bereits heraus und zwang einen ewig offenen Spalt zur Außenwelt auf.

Unter schwerem, unterdrückten Atem betrachtete er die Frau und ihren seltsamen Wuchs. Nichts hieran ergab einen Sinn. Was zur Hölle konnte so etwas verursachen? Kein Zweifel, dass das Signal damit zu tun hatte, — aber wie? Rasmus sagte, sie sei am See gewesen— "Sasch, hast du so was schon mal gesehen?" fragte er und wandte sich zu seiner Kollegin. Sascha antwortete ihm nicht. So wie Vivek eine Sekunde zuvor war sie auf die Dame fixiert. Ihr Gesicht sah aus, als würde sie einen Brechanfall oder einen Schwall an Tränen zurückhalten. Er wandte sich an Rasmus, der selbst den Tränen nahe zu sein schien. "Wie ist das passiert?", fragte er ihn. "Wie lange liegt sie schon hier?" Rasmus unterband eine Reihe schnappender Atemzüge. "Lisza ... vor drei Wochen war sie unten am Seeufer. Ich weiß nicht, was sie dort gesucht hat, niemand scheint es zu wissen. Ich hatte nur gesehen, wie sie durch den Wald zurück kam. Sie war ganz weggetreten, starrte in die Luft. Sie hat nicht auf mich reagiert, auf niemanden. Also saß sie den Abend lang dort auf ihrem Bett, bis sie endlich eingeschlafen ist. Und dann— sie ist einfach nicht mehr aufgewacht. Seitdem liegt schon so da. Mateijo hatte sie gefüttert, vorsichtig, flüssiges Essen, Grütze, Suppe. Und dann kam dieses ..." Er konnte sich nicht mehr halten. Rasmus sank auf einen mit scharlachrotem Velours bezogenen Schemel nieder, der an der Wand hockte. Mit schweren, keuchenden Atemzügen wandte er sich zum Boden. Vivek kniete sich zu ihm und legte eine Hand auf sein Knie. Er spürte die Anspannung, das nervöse Zucken. Nach eine Weile fasste Rasmus sich wieder und setzte stotternd zum Wort an: "Und ... Er ... Mateijo ... Eine Woche später fing es bei ihm auch an. Diese— diese Dinger, er hat sie noch nicht, aber ..." "OK", versicherte Vivek ihm ruhig. "Alles OK. Wir kümmern uns darum."

Aber wie zur Hölle sollten sie so etwas behandeln. Er wandte sich erneut an Sascha. An ihrem Nacken traten die Adern wieder heraus, doch diesmal stand in ihren Augen blanke Angst. Er trat an sie heran und flüsterte ihr zu: "Wir werden hier nichts retten können, oder?" Sascha schluckte. "Ich— pfffft—" Sie überlegte, starrte für einige ewige Sekunden auf das medizinische Einhorn, das ihnen blutend aufgetischt wurde. Sie wandte sich ihm zu. "Ganz ehrlich: Woher soll ich das wissen? Ich habe keine Ahnung, was in Gottes Namen das da ist. Vielleicht tritt sie heut' Abend noch ab, vielleicht in einer Woche. Vielleicht ist das Ding irgendein Parasit, der sie am Leben hält. Vielleicht stirbt sie sofort, wenn wir versuchen, es zu entfernen. Wie gesagt, gar keine Ahnung. Ich denke, das Beste, was wir gerade tun können ist, die Sache an die Jungs im Labor weiterzugeben. Ich fang' mit den Fotos an, du kümmerst dich um die Proben." Vivek nickte bestimmt. "OK. Aber ... wie, denkst du, kriegen wir davon Proben mit?" "Mhm, abstreifen wird schon gehen, und der Rest ... Du wirst einfach sehen müssen, was du machen kannst." Vivek nickte ein letztes Mal und wandte sich wieder von seiner Kollegin ab. Mittlerweile hatte Rasmus sich wieder auf die Beine gekriegt. Still schweigend stand er neben Liszas Bett und betrachtete sie mit sorgenvollem Blick. Mit seiner langen, fast vollständig zu Braunen verschmutzten Kutte sah er aus, als würde er ihr die letzten Riten geben. Vivek trat vorsichtig an ihn heran. "OK, Herr Rasmus", sprach er ihn an. "Nur Rasmus, bitte", wurde er mit einem Seufzen unterbrochen. "Rasmus", setzte Vivek erneut an, "wir werden dann jetzt mit der Behandlung anfangen, also ..." Langsam schien es, also sollte Rasmus keine Luft mehr in seinen Lungen haben. "Ja, ja, natürlich."

Vivek zog die Vorhänge hinter ihm zu und setzte den Werkzeugkasten neben Liszas Bett auf dem Boden ab. Zuerst rüttelte er die festgerosteten Gelenke des Kastens frei und nahm seine Schutzmaske heraus. Die verfilzten, herausragenden Fasern fingen sich an den vielen kleinen Haken der Instrumente. Die Maske angelegt, zog er seine Latex-Handschuhe an. Zuletzt legte er sich seine Grundausrüstung zurecht: Baumwollstäbchen zum Abstreifen, Skalpell in zwei Größen, Schere, Pinzette, Verbände, Desinfektions-Spray. Er rollte eine Länge Verband aus, desinfizierte sie, breitete ihn auf dem roten Blech-Panel aus, das die Tür des Werkzeugkastens bildete. Seine Ausrüstung entfaltete er darauf in einer sauberen Reihe. Eine letzte Überprüfung. Die Nervosität vor einer Operation konnte man einfach nicht loswerden — egal, wie klein sie war. Aber er war sich sicher. Alles wichtige war da. Er erkundigte sich noch einmal bei seiner Kollegin. "Fertig?", rief er Sascha zu. Schon jetzt sammelte sich sein Atem feucht unter der Maske. Sascha hatte die Kamera bereits ausgepackt, das altertümliche kleine Kästchen mit seiner kaum noch vorhandenen silbernen Chrom-Farbe. Routiniert lief sie die präzise vorbestimmten Winkel ab, aus denen sie Fotos für ihre Fall-Akte brauchten, jeder Positions-Wechsel untermalt von einem leisen Knattern, das ihre Bewegung umso mechanischer aussehen ließ. Konzentriert auf ihre Arbeit wie sie war, antwortete sie Vivek nicht, sondern lief weitere ihre Pfade ab. So kannte er es schon von ihr. Er wusste, er musste sie einfach ihre Arbeit machen lassen. "Uuund ... fertig!", rief sie endlich aus. "OK, fang an." Noch einmal sah er sich den eigenartigen Parasiten an. Es war schwierig, abzuschätzen, wo er ansetzen könnte, denn das ganze Gebilde schien Blut zu führen. Er entschied sich, zuerst einmal mit seinem Wollstäbchen den unteren Ansatz abzustreichen. So trocken wie dieser Bereich aussah, war es wahrscheinlich, dass er bereits verödet war. Vorsichtig, mit leichtem Druck, hielt er mit seiner linken den Kopf seiner Patientin fest. Selbst durch seine Latex-Handschuhe konnte er spüren, wie stark ihre Schläfen pochten. Doch abgesehen davon schien sie sich nicht zu regen. Ohne hinzusehen, nahm er ein Wollstäbchen in die Hand, führte es an den Auswuchs und wischte leicht über dessen trockenen Fuß. Ihre Lider schienen leicht zu zucken. Vielleicht war es auch nur derselbe dauerhafte Krampf, der ihn schon die ganze Zeit nervös hielt. Schon jetzt konnte er spüren, dass diese Region komplett abgestorben war. Die Oberfläche war bereits so trocken, dass er Schwierigkeiten hatte, das Stäbchen darüber zu bewegen. Trotzdem konnte er ein paar Flocken trockenen Gewebes zwischen den Fasern einfangen. Vorsichtig deponierte er die Probe in einem sterilen Plastikbeutel und drückte den Verschluss auf ganzer Länge fest zu.

Der einfache Teil war erledigt. Jetzt ging es an den Eingriff. Er nahm sich das kleinere der beiden Skalpelle, hielt darunter auf der Kante seiner Hand ein Stück Verband und setzte zum Einschnitt an. Dieselbe vertrocknete Stelle würde hierfür gut funktionieren. Vorsichtig hielt er das Geschwür mit seiner linken Hand fest. Irgendetwas pulsierte im Inneren, doch es fühlte sich so dumpf an, dass er sich weiterhin sicher war, dass die Venen in dieser Region sehr tief lagen. Kurz über seiner bandagierten Hand setzte er in einem flachen Winkel zum Schnitt an. Das Gewebe stellte sich zuerst als überaus zäh heraus, wie eine alte Hornhaut, die man vom Fuß abschneidet. Doch kurz unter der Oberfläche wurde das Gewebe weicher. Das Rot einer Vene blitzte hervor, ein Blutstropfen—

Vivek schreckte zurück. Etwas hatte ihn im Auge getroffen. Er fiel rückwärts auf den Boden. Die Augen presste er geschlossen. Seine Hand hing im Vorhang fest. Sein rechtes Auge brannte. Es musste das Blut gewesen sein. Warum fühlt es sich so an? Es fühlt sich an wie Salzsäure. Er stöhnte, griff blind um sich herum. Irgendwas, irgendwas, um den Schmerz zu stoppen. Es schien sich in seinen Schädel hinein zu brennen. Jemand griff ihn an der Schulter. Er zwang sein linkes Auge offen. Sascha. "Was — mit dir los?" Er konnte sie nur schwer verstehen. Jegliche Klänge, die er noch ausmachen konnte, schienen davonzugleiten. Er stotterte seine Antwort zwischen gehetzten Atemzügen heraus. "Blu— habe Blut ins — mein Auge —kriegt." Er konnte sich selbst kaum noch verstehen. Irgendetwas schien sich von außen in seinen Schädel hineinzupressen. Er drückte noch einmal sein Auge auf, doch er konnte es nicht still halten. Sein Blickwinkel schien in irgendeiner fremden Frequenz zu vibrieren. Alles, was er noch hörte, waren reine, kopfzersplitternde Tonwellen, perfide Sinuswellen, eine Bewegung, die sich durch seinen ganzen Körper hin ausbreitete. Er verstand kaum noch, was sich um ihn herum abspielte. Er spürte noch, wie man ihn vom Boden aufhob. Dann, betäubt von der allgegenwärtigen Vibration, spürte er nichts mehr. Er hatte keinen Blick, kein Gehör, kein Gefühl. Er schwebte, allein, in seiner selbsteigenen Leere, umgeben nicht einmal von sich selbst. Er war. Mehr nicht. Dann, auf einmal, ohne Ankündigung angeschlichen, bahnte sich ein Gefühl aus seinem Inneren? an. Sein Kopf?, formlos und leicht, füllte sich mit einer zeitlosen Wärme. Sie wanderte, gesteuert, das wusste er ?wie?, von etwas, dass er nie kennen würde. Sie breitete sich aus, suchte einen Pfad, versuchte zu entkommen, und brach endlich durch. Seine Augen waren gefüllt mit Licht, ewig und ehrfürchtig, selbstlos und einsichtig. Die Leere erfüllte sich mit diesem Licht, beleuchtete die überwältigende Abwesenheit von allem, und in der Mitte?, mitten drin, inmitten von nichts und niemand, stand Biljana, erleuchtet, erleuchtet von ihm, von ewiger Gnade, von weltloser Liebe. Er wusste, er wusste aber er wusste nicht wie, wie dieser Lichtschatten, formlose Form, ihre Gestalt war. Er wusste. Er bewegte? sich zu ihr, wie? wusste er nicht, doch es geschah einfach, es passierte aus Instinkt und, das fühlte er, weil es geschehen musste. Ohne nachzudenken, lag er bei ihr, seine Arme? in ihren?, sein Mund? an ihrem?, seine Wärme an ihrer?, Atem ging ineinander über, jemandes Haut, der Geschmack von Speichel, die Einladung weicher Körper, pulsierende Lunge, schwingendes Herz, sie gingen ineinander über wie nie zuvor, zischendes Blut?, Atem, Atem, Atem, Atem, und das ewige Licht, und sie schwingen mit der Frequenz der Welt

Er war am Schlafen. Sein Schädel pochte, seine Lunge pochte — alles schmerzte, alle Muskeln waren wund. Ein Stoß. Er öffnete seine Augen. Kalte Morgenluft strömte unter seine Lider, geschwängert in Regennässe und Petrichor, hoben den Schmerz hervor, den er selbst in seinen Augen bei jeder Bewegung spürte. Sie fühlten sich an, als hätte er Tage lang geschlafen. Noch ein Stoß. Das Licht überforderte ihn. Er brauchte einige Sekunden, bis die schemenhaften Farbe, die er zwischen müden Augenaufschläge sehen konnte, sich in seinem Verstand zusammensetzten. Beige. Ein felsiges, grünbraunes Beige, meliert mit dunkelbraunen Stichen. Der Wagen. Ein weiterer Stoß. Vivek guckte sich um, bemüht, nicht schmerzhaft seinen Kopf heben zu müssen. Er lag auf der Rückbank, ein staubiges, grobes Laken über seinen Körper gelegt. Von draußen schienen blass bronzene Sonnenstrahlen durch eine undurchdringliche Nebelwand. Er versuchte, sich aufzurichten. Mühselig hob er einen Arm, Hitze schoss durch seine Gelenke, er schaffte es nur noch, die Hand neben der Kopfstütze niederzulassen. Er stöhnte, versuchte, sich an der Stütze hochzuziehen—

Der Wagen stoppte. Er stoppte so abrupt, dass er fast drei Meter später mit einer Querdrehung anhielt. Vivek rutschte von der Rückbank, sein Kopf hing ungestützt über dem Fußraum. Der Fahrer, für ihn komplett unsichtbar, stieg aus, schlug die Vordertür zu und riss seine auf. Sascha blickte still auf ihn herunter, ihr wallendes blondes Haar schien in den nebelgrauen Himmel heraufzusteigen. Eine Goldader. Er konnte kaum erkennen, was ihr Gesichtsausdruck ihm sagen sollte. Eilig griff sie ihn unter der Schulter, rupfte ihn herauf, und lehnte ihn an den Sitz. Für ein paar Sekunden sah sie ihn still an. Besorgnis — das war es, was ihr Gesichtsausdruck zeigte. "Jesus Christus", murmelte sie schließlich, "ich war mir wirklich nicht sicher, ob ich dich noch Mal auf den Beinen sehe." Vivek hatte noch Schwierigkeiten dabei, klar zu denken. Obwohl der Wagen still stand, schien sich alles noch zu bewegen. Nur ein Gedanke schien sich konstant durch sein Gehirn zu fräsen. "Biljana", lallte er verwirrt, "Biljana, ich ... ich muss mit ihr reden ..." "Ja, natürlich", versicherte ihm Sascha, "sobald wir wieder ein Signal rein kriegen, kannst du sie anrufen." Vivek nickte, obwohl er sie nicht ganz verstand. "Ähhm ... Ich hatte versucht, dich etwas zusammenzuhalten", erklärte sie. "Die Leute dort im Haus, denen gehts ... na ja, sie werden durchhalten. Niemand war am Bluten, also hab ich das Mädchen kurz verbunden und bin mit dir raus. Mal sehen, was daraus noch wird." Vivek nickte erneut. Saschas Sorge schien sich zu legen. "Möchtest du nach vorne kommen? Wir kommen gleich noch mal am See entlang."

Mit Mühe, Geduld, und Saschas stützender Hand zwang Vivek sich auf den Beifahrersitz. Der Wagen ratterte wieder stetig über sumpfige Kieswege. Sascha bog ab auf eine breitere, löchrig asphaltierte Straße. Zu ihrer Rechten öffnete sich die Mauer aus Pinien-Wipfeln, und gedämmt hinter milchigem Nebel erstreckte sich der See. In der Entfernung, nur sichtbar durch das hinweisgebende Geländer, konnte Vivek das Anwesen ausmachen. Sein Gesicht juckte. Es fühlte sich an, als würde irgendetwas daran herunterlaufen. Er klappte den Beifahrer-Spiegel vom Dach herunter. Nichts Auffälliges. Er hatte fast gedacht, es würde ihm etwas im Gesicht bluten. Aber nur sein Auge war etwas angeschwollen.