Polarlicht

XV XVIII IX

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„Bist du dir *wirklich* sicher, dass du das durchziehen willst?“ Jennys Stimme klang streng monoton. Verschwindend geringe Spuren echter Sorge. Sie wusste ganz genau, wie oft sie diese Frage schon gestellt hatte.

Misha nahm einen letzten Zug von ihrer Menthol-Zigarette. Mit einem langsam verebbenden Zittern drückte sie den glimmernden Stummel an der stählernen Kuppel ihres Headsets aus. Der bröckelnde Rest landete mit einem Stoß aus dem Handgelenk in einen Eimer in der Ecke des Zimmers. Sie atmete tief durch. Ein frisch scharfes Stechen in der Lunge. Die prickelnde Betäubung zuckte kaum merkbar durch ihren Körper, wie ein Brandherd angefacht von der kühlen Abendluft, die über die Splitter der Fensterscheibe hinweg zog. Sie legte ihre Arme auf dem Headset ab, dass sie auf dem angewinkelten Knie balancierte. Sie lächelte ihr zu, so sehr die Frage sie auch nervte. „Entspann dich mal, das wird’n schneller Trip. Rein gehen, abgehen, rausgehen, verstehste? Ganz simple Sache. Und überhaupt, ich hab dich doch extra dazu geholt. Was soll da schon passieren?“

Jenny schnaubte angespannt. „Du weißt ganz genau, was in den DeadNets los ist. In so was direkt rein zu springen ist so sicher, wie sich eine Hypo aus dem Metro-Klo zu setzen.“ Mit bedenklichem Ausdruck blickte sie in den Raum. Vorsichtig strich sie über die Nester an Kabeln, die lose zusammengeknotet von der Decke hingen. „Und überhaupt: Ich denke wirklich nicht, dass du hier die Ausstattung dafür hast.“ Mit den Fingern glitt sie an den Kabel entlang. Ein leises Klimpern von Metall. Ein staubiger Klumpen Mörtel bröckelte aus einem der Löcher, in dem kurz zuvor noch ein gußeiserner Haken steckte, der eines der Kabel-Bündel zusammenhielt. Dieses Bündel schien jetzt in einer der vielen Planen gespannter Kabel zu liegen wie in einer schattigen Hängematte. Mit dem bloßen Auge war es kaum von den umliegenden zu unterscheiden.

„Beruhig dich, ich hab’s hier so gut, wie ich’s brauch. Du weißt ganz genau, wie lange ich das schon geplant habe. Alles genau ausgelegt.“ Misha streckte ihre Beine über die abgetragenen Armlehnen des OP-Stuhls aus. Die Stahlstreben unter den dünnen Lederpolstern drückten sich in ihre Haut ein. Doch die Betäubungsmittel aus der Zigarette nahmen ihr bereits das letzte Schmerzempfinden. „Das ist kein Durchschnitts-Vib-Trip, wovon wir hier reden“, erklärte sie Jenny. Sie bemerkte bereits, dass ihre eigenen Worte, schon während sie sie aussprach, sich immer enger an den Rand ihres Bewusstseins drängten. „Das sind komplett außerirdische Konzepte von Tech, alles unter unsern Augen versteckt. Dieses Net gehört den freilaufenden KIs, komplett unmenschliche Kunst. Zwei dutzend vergessene Server, die seit Generationen keinen Kontakt mehr mit Menschen hatten. Nomaden, Einsiedler, unerkannte Pioniere! Richtige Archäologie! Nicht nur was, wozu man sich einen abwedeln kann.“ Jenny sah sich ein letztes Mal nervös um. „Ich werde dich wirklich nicht mehr davon abhalten, oder?“ Misha hatte bereits angefangen, das Headset an ihrem Kopf festzuschnallen. „Das wusstest du doch sowieso.“

Sie konnte ihr die Fragerei nicht übel nehmen. Jenny hatte keine Ahnung von VR. Das konnte sie ihr auch nicht wirklich übel nehmen. Die wenigsten Leute, die sie jemals mit solchen Headsets gesehen hätte, waren mehr als leere Hüllen; Junkies, die jede Hoffnung auf wahre Erfüllung in dieser Welt schon lange hinter sich gelassen hatten. Aber sie wusste nichts von den Dingen, die Misha bereits auf der anderen Seite dieser Kuppel gesehen hatte. Sie kannte nicht die Welten, die sie dort geschaffen hatte. Nichts von den Leuten, die sie dort getroffen hatte. Nichts von den Freunden, den Feinden, den Lieben. Sie waren der Grund, aus dem sie jetzt hier saß. Fünf Jahre. Fünf Jahre brachten sie hierher. Fünf Jahre, seit sie dort zum ersten Mal von den DeadNets gehört hatte. Seitdem war es ihr einziges Ziel gewesen, eines davon zu finden. Sie wollte nichts, als seine fremden Artefakte selbst zu erleben. Komplette Versionen des Web die in den Wellen seines Kreislaufs umgekommen waren. Technologien, die es einst definiert hatten und nun auf dem Grund irgendeines leise dahin stotternden Servers versackten. Über Monate war sie Dutzenden Spuren nachgegangen, nur um einen Zugriffspunkt für diese Art von DeadNet zu finden. Monate. Fünf Jahre an Monaten.

Sie setzte sich das Headset auf. Die Matrix aus zapfenförmigen Kontakt-Pins legte sich wie ein Nagelbrett mit einem gleichmäßigen Stechen auf ihr Augenlid. Ein langsam erstärkendes elektrisches Feld floss nach und nach hindurch. Flackernd kratzende Elektrizität. Es zog an ihren Wimpern. Eine erste Wahrnehmung zwängte sich in ihren Verstand: halb Sicht, halb unterbewusstes Verstehen. Ein gerade vergessenes Traumbild. Sie konnte sich selbst sehen. Hinter einer seichten Wand aus lose gespannten Kabeln war sie regungslos über den OP-Stuhl gestreckt. „Sonde ist online“, versuchte sie Jenny zu bestätigen. Sie war sich nicht sicher, aber es schien so, als hätte sie ihre Worte bereits nur noch murmelnd herausgelallt. Konnte sie ihren Kiefer noch spüren? Die Betäubung war bereits so weit vorangeschritten, dass sie kaum noch ihre Gedanken zu Ende bringen konnte. Die Aufnahmen der Sonde saßen ihr noch halbklar im Verstand. Sie konnte sehen, wie Jenny sie zwischen den Kabeln herausstocherte. Misha hatte hinter dem Stuhl diverse Werkzeuge auf einem kleinen Hocker bereit gelegt: Skalpelle, Spannungsmesser, Luftspritzen. Jen nahm ein ein altes Messing-Feuerzeug und versuchte mit Hilfe der mickrigen Flamme, in den Schatten auf der Unterseite des Stuhls etwas zu erkennen. Nach einiger Suche streckte sie die Sonde zu dem runden Ausschnitt herüber. Der Blick auf den Ansatz ihres Schädels war dort frei. Ein dichter, kreisförmiger Narbenwulst hatte sich dort herausgebildet. Jenny legte langsam ihren Finger darauf ab. „Hier rein?“ Im Gewirr aus flach unterdrückter Wahrnehmung spürte Misha deutlich, wie sich ihr Fingernagel spitz in ihre Haut eindrückte. Sie murmelte bestätigend, stetig festhaltend an den letzten Fetzen ihres Bewusstseins.

Jenny fuhr die Nadel der Sonde aus. Der dunkel glänzende Schaft erinnerte sie an eine Bleistift-Mine. In einer behutsam langsamen, geraden Bewegung führte sie drei Zentimeter Karbon-Stahl in Mishas Nacken ein. Ihr Nacken war schon so vernarbt, dass sie kaum noch etwas spürte, bis die Sonde das Rückenmark berührte. Nervenimpulse schossen ihr durch den ganzen Körper. Es fühlte sich an, als ob die Nadel ihr gesamtes Rückgrat durchwandern würde. Ein Gewitter der Wahrnehmung. Die Aufnahme der Sonde verschwand. Ein chaotisches Geflecht aus Licht-Impulsen nahm ihren Platz ein. Ein endloses Feuerwerk. Zufällige, panischen Fluchtversuchen der Nerven. Es zog sich an allen Enden ihrer Wahrnehmung zusammen. Bunte Lichter erzeugt von orientierungslosen Neuronen. Verzweifelte Sinnbildung. Dann, mit einem Schlag, blieben die Lichter stehen. Ihre Umrisse, so unmöglich scharf, dass sie ein Loch in der Realität selbst zu bilden schienen, verdichteten sich. Ihre Milliarden Farben verblassten gemeinsam in ein surreal reines Weiß, bevor sie sich in einer einheitlichen, geschmeidigen Bewegung hinter die Grenze eines unbekannten Wahrnehmungshorizonts bewegten.

Dunkelheit. Die reine, schwarze Dunkelheit eines leeren Verstands legte sich für einen Moment um Mischa herum. Dann traten, in der selben anmütigen Schwere in der sie verschwunden waren, die Lichter langsam wieder auf. Spärlich tauchten sie aus allen Richtungen auf und schienen auf mathematisch präzisen Bahnen zu dem selben unbekannten Ziel hingezogen zu werden. Diese Phase war Mischa gut bekannt. Ein Zeichen dafür, dass ihr Kontrollpult auf der Suche nach einem Server war. Keine Muster, da es noch kein Protokoll zur Kommunikation erhalten hatte. Bis dahin würde ein kleiner Teil der Impulse, die der Computer in die Welt hinausrief, in Reinform ihr Gehirn durchfließen. Soviel war ihr schon von ihren vergangenen Trips bekannt. Eine Atempause. Als sie sich wieder aus ihren Gedanken los riss, merkte sie, dass die Lichter anfingen, von ihren festen Schienen abgelenkt zu werden. Nach und nach strebten immer mehr Einzelgänger zu einem gemeinsamen Zentrum. Eine Verbindung war etabliert. Mehr und mehr von ihnen fielen wie in ein tiefes Loch gezogen zusammen, bildeten längere und längere Schweife, bis Mischas gesamte Sicht von einem nahezu einheitlichen Gewebe aus sanft wabernden Licht-Fäden bedeckt war.

Dann, in einem nahezu unmerkbar langsamen Wechsel ihrer Farben, bildeten sich langsam flache, schwebende Bilder im Raum heraus: Familienfotos, Bauberichte, Akademische Papiere, Pornographie. Der massenhafte Bodensatz jedes Nets — aber alle wie aus der Zeit gefallen. Pläne für Gebäude, die längst abgerissen waren, Angst vor Kriegen, die vor Generationen ganze Kontinente zerstört hatten, aufgegeilte Gier nach Promis, die vor Kurzem zur Ruhe gelegt worden waren. Und zwischen all dem, jenseits der verstörendsten der Bilder, die sie dort vor sich sah, dieses durchgehende, nagende Gefühl. Das Gefühl, vor dem man sie gewarnt hatte. Das Gefühl, das so viele in den alten Berichten, die sie über dieses Net ausgegraben hatte, versucht hatten auszudrücken: Dieses Gefühl des unnatürlichen, des unvollständigen Imitats.

„Jenn?“ rief sie in den Raum heraus. So nah die Bilder ihr auch schienen, hallte ihre Stimme wie ins Unendliche nach.

„Mischa?“ schien der Raum zurückzuschallen.

„Ich glaub, ich hab’ hier was. Lass’ den Interpreter da mal drüber gucken.“

„Und wie…?“

„Ich hab den großen roten Knopf aus ‘nem guten Grund dahin gestellt. Drück einfach drauf, bevor wir das hier verlieren.“

Die Bilder hielten nach und nach an; sie schienen nicht einfach nur stehen zu bleiben, sie schienen regungslos in ihren Umrissen herumzuschwirren, als ob sie sich in der vierten Dimension bewegen würden. Die Bilder wechselten sich ab wie vorher, doch das nagende Gefühl schien sich nur zu verstärken. Diese Galerie schien immer unnatürlicher zu werden. Die Bilder immer verzerrter, Visagen immer verdrehter, Inhalte immer bizarrer. Der Interpreter hatte sich in dieser Datenmenge verbissen, und kaum ein Bild konnte noch für mehr als eine Sekunde an die Oberfläche durchbrechen, bevor das nächste sich materialisierte, um im nächsten Wimpernschlag wieder unterzutauchen. Über den Rausch des Adrenalins in Mischas Körper legte sich eine weitere Empfindung: Der Interpreter hatte sich mit dem Material synchronisiert. Jetzt riss er sie mit sich. Sie spürte die warme Sommerluft, in der die Familien ihre Fotos aufgenommen hatten, sie spürte die kalten Betonwände, die in regnerischen Herbsttagen von Architekten vermessen wurden, sie spürte die Aufregung von Teenagern, die auf ihr erstes Konzert gegangen waren. Doch vor allem, durchgängig in all diesen Erfahrungen, spürte sie vor allem andern eins: die panische Verwirrung eines unmenschlichen Wesens. Ein Wesen, das nicht wusste, wofür es existierte. Aller Kontext, Sinn und Verstand der Bilder löste sich immer mehr auf. Farben waren Töne waren Formen waren Emotionen waren Gedanken waren Formen waren Empfindung und alles brach in tosenden Wellen durch ihre Venen, zerriss ihren Schädel, bewegte ihren Verstand und verschmolz jedes Zucken ihrer Neuronen mit einem Maß an Empfindung, dass ihr unter Adrenalin unterdrückter Verstand kaum noch begreifen konnte. Licht und Farbe und Blut und Fleisch und Form und Verstand und Sinn und Ton und Nerven und Farbe und Netze und Nerven und ewig und ewig und ewig und ewig—

Das Nächste, was sie wahrnahm war, wie sich ihr das Blut im Kopf ansammelte. Sie war wieder in ihrer Wohnung aufgewacht. Ihr Körper war eingeklemmt zwischen der Armlehne und Sitzfläche des Stuhls. Kopfüber vom Sitz hängend starrte sie in die Richtung des Spülbeckens. Noch halb narkotisiert sah sie zu, wie die Tropfen aus dem leckgeschlagenen Rohr im selben Rhythmus zu fallen schienen wie das Pochen in ihrem Schädel. Das Narkosemittels klammerte sich noch in den Ecken ihres Hirns fest. Doch ihre Muskeln waren steif und waberten vor Hitze. Sie konnte kaum etwas hören. Ihre Ohren nahmen nichts wahr als ein konstantes, schrilles Pfeifen. Doch irgendetwas schien hier im Raum zu Rascheln.

Auf einmal stach ihr die Nadel einer Spritze in die Brust. Irgendetwas schoss durch ihre Venen. Sie geriet in Panik, schlug sich an, stürzte hinten über den Stuhl, krabbelte zur nächsten Wand, sah sich um— „Hey, ganz ruhig.“ Instinktiv packte Mischa ihre Hände fest um den Arm, der sich zu ihr ausstreckte. Sie blickte auf in das Gesicht der Person, die die Spritze mit ihrer anderen, zitternden Hand noch fest umklammert hielt. „Ich bin’s, Jeanine.“ Behutsam legte sie die Spritze auf den Boden und fasste Mischa sanft an der Schulter. „Ich dachte wirklich, das wär's für dich gewesen. Du bist auf einmal herum gezuckt, hast dich überall angestoßen—“ Mischas Atem beruhigte sich langsam. Mit ihrer freien Hand wischte sie sich langsam über die Stirn. Eine Lache aus frischrotem Blut blieb daran kleben. Für einige ewige Sekunden starrte sie fixiert auf ihre rot befleckte Hand. Sie bemerkte die Steifheit des langsam trocknenden Blutes, den wabernd formlosen Schmerz in ihrem Kopf, den kalten Stahl des Headsets, das an ihrem Nacken herunterhing… Die selbe kalte Luft kam immer noch durch das Loch im Fenster. Doch das hindurch scheinende Nachtlicht war wärmer geworden im Schein einer langsam scheu aufgehenden Sonne. Behutsam packte Jenny sie im Gesicht und drehte sie zu ihr hin. „Was zur Hölle ist da drin passiert?“

Wieder diese ewigen Sekunden. Sie starrte Jenny in die Augen, sie sah die Sorge in ihrem Gesicht, und wusste, dass sie die Antwort auf diese Frage nicht kannte. Ohne ihren Blick abzuwenden, löste sie den Kinngurt des Headsets, setzte es ab und drückte es ihr in die Hände. Sie war sich nicht sicher, was sie sagen sollte. Sie spürte immer noch die Angst, die halb vergessene Berührung des nervenzuckenden Wahnsinns, den sie dort gefunden hatte. Doch als sie endlich ihre Hände von der glänzend schwarzen Oberfläche des Headsets zurückzog, fanden Worte von selbst ihren Weg heraus: „Was ich da drin war, kann ich nicht mit menschlichen Worten beschreiben.“